Partizipative Feldforschung Simikot Okt/Nov 2015, Helena Hinterecker B.A.
Im Rahmen meiner Masterarbeit mit dem Thema „Sozioökonomische Problemlagen junger Frauen in Simikot/Nepal und hieraus resultierende Projektentwicklung“ führte ich eine Feldforschungzur Erhebung und Identifizierung ausschlaggebender Faktoren im Zeitraum Oktober, November durch. Begleitet wurde ich von meiner Kollegin Natalie Gruber, B.A., die ebenfalls über spezifische Erfahrungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit aufweisen kann. Gemeinsam mit meiner Kompetenz in Projektentwicklung und –management sowie Sozialer Arbeit, war dadurch eine Multidisziplinarität und Ganzheitlichkeit während des gesamten Forschungsprozesses gegeben.Da bereits unzähligeEntwicklungsprojekte existieren, die aufgrund mangelnder Einbeziehung der Bevölkerung, Missachtung der kulturellen Unterschiede und dem Anwenden von typisierten Standardlösungen scheitern, sollte die durchzuführende Sozialforschung partizipativ, ermächtigend und stärkend erfolgen und Teilnehmerinnen als Expertinnen ihrer eigenen Lebenswelt anerkannt werden.
Der von mir gewählte Ansatz des „Participatory Rural Appraisal“ wurde speziell für Bewohnerinnen entlegener Gebiete in Entwicklungsländern entwickelt und ermöglichtedurch einfache, visuelle Techniken, Gruppendiskussionen, - workshopsund – übungen eine starke Partizipation aller Beteiligter. Dies gelang, da Teilnehmerinnen die Rolle der Expertinnen übernahmen, den Forschungsprozess selbst steuerten, gestalteten und jederzeit verändern konnten, während wir Forscherinnen ausschließlich alsMotivatorinnen, Moderatorinnen und Interessierte fungierten und lediglich den groben Ablauf und die Wahl der Methoden planten. Eine Dolmetscherin stand uns stets für erforderliche Übersetzungen zur Seite.
Durch die Anwendung visueller Techniken konntenauch Analphabetinnen an allen Übungen und Befragungen ohne Einschränkungen oder Benachteiligungen partizipieren.Durch diese Art der Zusammenarbeit wurdeOffenheit und Vertrauen zwischen allen Teilnehmenden geschaffen.In der ersten Woche wurde eine heterogene Gruppe an 40 jungen Frauen identifiziert, wobei sich Heterogenität hierbei auf Kasten- und Religionszugehörigkeit, Wohnort, Alter,
Bildungsniveau, Familienstand, Beruf und Kinderanzahl bezog.
Die Teilnehmerinnen wurden in vier kastenübergreifende Gruppen gegliedert, welche in den folgenden sieben Wochen an gesamt 15, zwischen zwei- und fünfstündigen Treffen teilnahmen. Waren die Frauen zunächst noch sehr darauf bedacht, Zugehörigen fremder Kasten mit scheinbar unüberwindbarer Distanz zu begegnen, so wurden bereits nach wenigen Wochen sämtliche Übungen gemeinsam gelöst, auf gleicher Augenhöhe diskutiert, umarmt, getröstet, versöhnt. Freundschaften wurden geschlossen, gemeinsam nach Lösungen gesucht, einander nach Hause begleitet, das „Schicksal Frausein“ als Brückenschlag.
Gruppendiskussionen und Workshops fanden primär im Guesthouse der NTA in ungestörtem Rahmen statt; auch wurden an Plätzen, welche die Frauen selbst wählen konnten, Befragungen und Übungen durchgeführt. So unternahmen wir beispielsweise bereits am ersten Tag eine kleine Wanderungen zu jenen Orten, an denen wichtige Punkte Simikots gut überblickbar sind. Hier gestalteten die Frauensocialmaps und mobilitymaps, welche einen allgemeinen Überblick über wichtige Punkte, Wege, deren Vor- und Nachteile im Alltag der Frauen sowie deren Risiken gaben.
Auch fanden Techniken, wie die100 seeds scoring technique, bei der die Ein- und Ausgaben die Familien erläutert und analysiert wurden, die ressource analyses, bei der die Verteilung von Ressourcen wie Bildung, Ent-scheidungsmacht, Geld etc. in den Familien sowie in der gesamten Gemeinschaft aufgezeigt wurden, Anwendung. Ferner gestalteten die Frauen diverse problemtrees, welche die in den vergangenen Übungen, Diskussionen und Befragungen identifizierten Probleme detailliert darstellten und im Verlauf intensiv diskutiert wurden. Bei den durchgeführten daily schedules konnten die Tagesabläufe der Frauen aufgezeigt, diskutiert und mit jenen der männlichen Familien-
mitgliedern verglichen werden. Weiters wurden wellfare- rankings, seasonal calendars und PIE diagramms durchgeführt, um hier nur einige der angewandten Methodenzu nennen. Geführte Einzelinterviews, von etwa einer Stunde Zeitdauer, beinhalteten Fragen zu den Problembereichen „Selbstbestimmung“, „Gesundheit“, „Hygiene“, „gesellschaftliche Normen und Traditionen“, „Gewalt“, „Bildung“ und „Arbeitsbelastung“.
Durch Vertrauensaufbau, Gruppenstärkung und fruchtendes Empowerment erreichten wir während der am Ende stattfindenden Einzelinterviews Offenheit und Vertrauen; unsere Fragen wurden sehr ehrlich und frei von jeglicher Scheu beantwortet. Die identifizierten Probleme sind vielfältig, reichen von ökonomischen Schwierigkeiten, häuslicher Gewalt, Alkoholmissbrauch der männlichen Familienmitglieder, über gesundheitliche Beschwerden, einer massiven Arbeitsbelastung, die sich unter anderem in Form von täglichem, mehrstündigen Holzholen äußert, bis hin zu gesellschaftlicherDiskriminierung von Frauen, primär jenen der untersten Kaste, und dem lebenslangen Mangel an Selbstbestimmung.
Das häufigste und am schwerwiegendsten bezeichnete Problem stellt die Tradition des Chaupadis dar, die es den hinduistischen – und somit der großen Mehrheit der Frauen – verbietet, während der Zeit der Menstruation für 5 Tage und nach der Geburt eines Kindes für 30 Tage das eigene Haus zu betreten. Hieraus resultiert, dass Mädchen und Frauen gemeinsam mit den Kleinsten ihrer Kinder sowie nach der Entbindung gemeinsam mit ihrem Neugeborenen in Wäldern, Höhlen oder selbst gebauten Verschlägen nächtigen müssen. In Simikot herrschen aufgrund der Höhenlage Temperaturen bis zu minus 20 grad Celsius. Gewebeschädigungen durch schwere Erfrierungen, Infektionskrankheiten, Pulmo-nien der Frauen und Kinder sowie sexueller Missbrauch sind das Ergebnis dieser menschenverachtenden Tradition und leisten einen traurigen Beitrag zur stark erhöhten Mutter- und Kindersterblichkeitsrate in Humla.
Nachdem diegenanntenvorläufigen Ergebnisse festlagen, alle ortsansässigen Organisationen mittels einer mehrtägigen Umfeldanalyse befragt und deren Aktivitäten durchleuchtet wurden, organisierten wir mehrtägige Diskussionsrunden, um relevante Projektideen als Lösungsansätze zu identifizieren.
Die Motivation und ein unvorstellbarerIdeenreichtum der Frauen waren faszinierend und berührend zugleich. Frauen, die nie das Glück hatten, eine Schule zu besuchen, weder schreiben noch lesen können, unfassbares Leid erfahren haben, jeden Tag aufs Neue dafür kämpfen, ihre Familien ernähren zu können, stehen plötzlich auf, fertigen Skizzen an, grübeln, stellen Fragen, hören einander zu und entdecken ihre eigene Kraft und die Stärke des Kollektivs. Hand in Hand sind sie Expertinnen ihrer eigenen kleinen Lebenswelt, friedliche Kämpferinnen, bereit für Veränderung.
In diesen Tagen wurde das Projekt „Mahila Badhnu – blühende Frauen“ geboren. Ein Projekt, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Tradition des Chaupadi nachhaltig zu beenden. Es stellt während genannter Zeit einen warmen und sicheren Wohnort zur Verfügung und macht sich die erzwungene Ausgrenzung der Frauen aus der dörflichen Gemeinschaft für Kompetenz erwerbende Aktivitäten zu Nutze:
Tägliche Frauengruppen fokussieren sich auf die Stärkung der weiblichen Community sowie auf die Wissensvermittlung von gesundheitsrelevanten Themen (z.B. Schwangerschaft, Stillen, Verhütung, Hygiene, Chaupadi, Prävention von Krankheiten wie Prolaps etc.). Sie beinhalten ebenso teamstärkende Maßnahmen, Diskussions-runden sowie Workshops und Vorträge zu frauen- und gesundheits-spezifischen Themen-bereichen und werden von der ortsansässigen Sozialarbeiterin in Kooperation mit der organisationsinternen und von der NTA finanziertenHebamme durchgeführt. Nur wenn Frauen die gesundheitlichen Gefahren des Chaupadi erkennen, sie die Stärke der Kollektivität als Kraft einer Gemeinschaft erleben und begonnen wird, gemeinsam gegen die traditionsbedingten Demütigungen zu kämpfen, wird ein Ende des Chaupadi gelingen.
Aufklärungsarbeit: Im Rahmen der Frauengruppen wird wöchentlich ein Frauenprogramm im örtlichen Radiosender entwickelt und umgesetzt. Dieses wird von den Frauen selbst gestaltet und beinhaltet deren Ideen zur Sensibilisierung der Gesellschaft für frauenspezifische Inhalte. GeplanteAufklärungsevents möchten auf kreativem Wege die Gesellschaft über die Gefahren des Chaupadi aufklären und für dessen Beendigung gewinnen. Die örtliche Gesellschaft wird so schrittweise für frauenspezifische Themen sensibilisiert und erlebt Frauen erstmals als selbstbestimmte, untereinander vernetzte, wissende und selbstbewusste Personengruppe.
Medizinische Betreuung: Unter der Leitung der Hebamme findet medizinische Betreuung sowie erforderliche medizinische Unter-suchungen statt, welche im kooperierenden Krankenhaus und der organisationsinternen Maternity durchgeführt werden. Dieses An-gebot kann von allen Bewohnerinnen und deren Kleinkindern und insbesondere von jenen Frauen und deren Säuglingen, welche das Haus aufgrund einer Entbindung bewohnen, genützt werden. Es wird eine medizinische Grundversorgung gewährleistet, das Wissen über eine gesunde Entwicklung der Kinder geschärft und das Verständnis für die Wichtigkeit, zukünftige Entbindungen in der Maternity anstatt in Viehställen durchzuführen, gestärkt. Dadurch wird eine weiterführende Betreuung durch die bestehende medizinische Infrastruktur auch nach Verlassen des Frauenhauses garantiert und ein signifikanter Beitrag zur Senkung der Mutter- und Kindersterblichkeitsrate geleistet.
Die Aktivitäten „Frauengruppen“, „Auf-klärungsarbeit“ und „medizinische Betreuung“ finden ausschließlich zu Zeiten der er-zwungenen Abwesenheit aus der dörflichen Gemeinschaft statt und stellen somit keine zusätzliche zeitliche Belastung für die Frauen dar.
Landwirtschaftliche Trainings: Der lebens-weltlich orientierte Kompetenzerwerb findet in Form von landwirtschaftlichen Trainings statt, in welchen unsere Kurzzeitbewohnerinnen Verticalfarming- und Greenhouse-Techniken erlernen. Frauen erwerben auf diesem Weg Techniken und Methoden, die ihre ökonomische Situation nachhaltig verbessern und unweigerlich zu jener familiären wie gesellschaftlichen Anerkennung führen, die eine Grundvoraussetzung für die Beendigung von Chaupadi schafft. Vertikale Land-wirtschaft ermöglicht es den Frauen, selbst mit wenig oder gar keinem Land Gemüse an Dächern, Terrassen und Hauswänden anzubauen, einen gegenseitigen Austausch und Handel zu initiieren, somit Unabhängigkeit von importierten, teuren Lebensmitteln zu erlangen und Mangel- wie Unterernährung zu reduzieren. Frauen werden als Anreiz für die Teilnahme an den Trainings mit einem Teil des erwirtschafteten Ertrags entlohnt. Die Benutzung des Frauenhauses ist für menstruationsbedingte Bewohnerinnen undderen Kleinkindern auf ein Jahr befristet, in dem jede Frau für jeweils 4 Tage pro Monat einen Platz in unserem Haus und angebotenen Aktivitäten haben soll. Diese Befristung hatden Zweck, mehr Frauen als Bewohnerinnen erreichen zu können, erlerntes Wissen sowie Fähigkeiten als Opinionleader zu verbreiten und umzusetzen. Frauen nach einer Entbindung dürfen das Haus gemeinsam mit ihrem Neugeborenen für 30 Tage nutzen.
Genannte Aktivitäten stellen die notwendigeGrundlage für das Ende des Chaupadizwangs dar. Nur durchgeschlossenes, starkes Auftreten der weiblichen Community, Erlernen von lebensnahem Wissen - welches zu einer direkten Verbesserung der ökonomischen und gesundheitlichen Situation der Frauen führt – wird gesellschaftlicher Respekt gelingen. Das Projekt Mahila Badhnu steht im Einklang mit der Anmutung der Nationalflagge Nepals, auf dieser als Symbol der Gleichheit der Geschlechter eine Frau und ein Mann einander die Hände reichen, zwei rote Ähren auf goldenem Grund die Fruchtbarkeit des Landes symbolisieren und der nationale Leitspruch „Die Mutter und das Mutterland sind größer als der Himmel“, als Vision und Ironie das Bild abrunden. Blühende Frauen, als Zeichen einer gesundenden Gesellschaft, stehen somit nicht zuletzt für einen sinnstiftenden Paradigmenwechsel innerhalb der Kultur und Gesellschaft ganz Nepals.
(„Mahila Badhnu“ wird im März 2016 bei Fresenius Stiftung eingereicht, geplanter Projektstart ist Oktober 2016.)